„Da ist nichts“- Wenn Schmerzen nicht ernst genommen werden

Ich sitze im Zahnarztstuhl und bin verzweifelt. Ich habe Schmerzen, seit Wochen, so dass ich schon ganz mürbe bin und Schmerzmittel auch nicht mehr helfen und merke: Der Arzt glaubt mir nicht. „Das sind nur Verspannungen im Kiefer“ sagt er, „Der Zahn sieht super aus, da ist nichts“, zum krönenden Abschluss rät er mir: „Entspannen Sie sich einfach mal ein bisschen“ und tippt mit dem Zeigefinger an seine Schläfe: „Der Stress fängt hier oben an“. Ich bin entlassen. Das Allerschlimmste für mich ist, dass es nicht das erste Mal in den letzten Monaten ist, dass mir Ärzt*innen so etwas sagen. „Da ist nichts“ ist mittlerweile mein meistgehasster Satz. Er steht nämlich eigentlich für: „Das bilden Sie sich ein“.

Der Schmerz bleibt

Das ist dem Schmerz aber egal, dass er eigentlich nicht sein dürfte, er bleibt und wird noch schwerer auszuhalten, weil „Da ist nichts“ heißt auch: „Ich tue nichts dagegen“ und man bleibt allein mit dem Schmerz zurück. Es folgt eine mühsame Suche nach eine*r Ärzt*in, die/der einem glaubt. Aber je öfter man „Da ist nichts“ hört, desto mehr zweifelt man an sich selbst: „Vielleicht bilde ich mir das wirklich alles nur ein…?“.

Irgendwann wird der Schmerz dann aber alles, an was man denken kann, und der Tag teilt sich nur noch in Schmerzzeiten ein: unerträglich, schlimm, aushaltbar und man hangelt sich von Schmerzmitteleinnahme zu Schmerzmitteleinnahme, wie ein*e Süchtige*r von einem Rausch zum nächsten. Die Nächte werden lang, man liegt wach da und sehnt sich nach einer Zeit zurück, wo man nicht wusste, welche Tiere nachts durch den Garten laufen, wann der Nachbar seinen Fernseher ausmacht oder wie früh der Pendelverkehr losgeht.

Man ist wütend, traurig, verzweifelt und vor allem eins: müde. Müde vom Schmerz, vom nicht schlafen, vom sich trotzdem durch den Alltag schleppen, von den ständigen Arztbesuchen und irgendwann schließlich vom Leben. Man verliert das Vertrauen ins Gesundheitssystem, dass einem ja eigentlich helfen soll, genauso, wie das Vertrauen in sich und den eigenen Körper. Denn wenn der Schmerz keine körperliche Ursache hat, dann hatte der Arzt wohl doch recht, als er an seine Schläfe getippt hat, vielleicht spielt einem der eigene Verstand ja etwas vor. Es wird immer schwieriger an der eigenen Überzeugung festzuhalten: „Doch, da ist was!“.

Kein Einzellfall

Hört man sich ein wenig um, stellt man schnell fest, dass vielen so etwas schon mal passiert ist. Die Geschichten klingen alle ähnlich, sind mal mehr, mal weniger dramatisch und gehen sogar bis zu lebensbedrohlichen Szenarien, wie vergessene Operationsgeräte im Bauchraum nach einem Kaiserschnitt. Aber natürlich geben wir Wissenschaftler*innen uns nicht mit anekdotischer Evidenz zufrieden, wir brauchen Studien, am besten viele, um sagen zu können: Unsere Schmerzen werden tatsächlich oft nicht ernst genug genommen. Und die gibt es tatsächlich bereits zuhauf.

Das gilt übrigens nicht nur für Ärzt*innen, sondern für sämtliche Mitarbeitende des Gesundheitswesens, wie Pflegepersonal und Physiotherapeut*innen. Eine Studie fasst es so zusammen: „Mitarbeitende des Gesundheitswesens neigen dazu, die Symptome von Patient*innen mit Schmerzen nicht ausreichend zu untersuchen, zu behandeln und deren Schwere zu unterschätzen“. Das wiederum gilt nicht nur für sämtliche Vertreter*innen der Gesundheitsberufe, sondern auch für sämtliche Settings (ambulant, stationär), Fachrichtungen und Krankheiten, auch Krebs. Das ist ein ziemlich ernüchterndes Resümee für Patient*innen.

Schmerzen bei Krebs

Eine Krebserkrankung geht leider fast immer auch mit Schmerzen einher. So ist Schmerz eines der häufigsten Symptome bei Patient*innen mit Krebs. Schmerzen, vor allem nicht ausreichend behandelte, beeinflussen Patient*innen negativ und verpassen ihrer Lebensqualität einen Riesendämpfer. Über Jahrzehnte wurde immer wieder festgestellt, dass Schmerzen bei Patient*innen mit Krebserkrankungen nicht ausreichend behandelt werden. Und es folgten viele Bemühungen dies zu verbessern, was laut einer aktuellen Studie immer besser zu gelingen scheint. Trotzdem leiden gerade bei fortgeschrittenen, metastasierten Krebserkrankungen immer noch ein Großteil der Patient*innen darunter. Es gibt also bereits einen Silberstreif am Horizont, aber vermutlich noch einen weiten Weg.

Eine Frage der Glaubwürdigkeit

Aber warum ist das so? Um mal für Ärzt*innen in die Bresche zu springen: Schmerz ist eine rein subjektive Empfindung, die nicht zuverlässig objektiv gemessen werden kann (obwohl es immer wieder versucht wird). Zudem empfinden und äußern Patient*innen Schmerzen ganz unterschiedlich. Das macht die Einschätzung schwierig, weil man sich allein auf die Aussagen der Patient*innen verlassen muss und nur wenig andere Indikatoren hat. Andererseits wird das Machtgefälle zwischen Ärzt*innen und Patient*innen selten so klar wie bei Schmerzen, denn die Entscheidungsgewalt, ob und was gegen die Schmerzen unternommen wird, liegt allein beim Behandelnden. Patient*innen können nur alles dafür tun, dass sie möglichst glaubwürdig sind.

Ich selbst fing an mir zu überlegen: Wie fertig mit den Nerven sollte ich aussehen? Schadet oder hilft es mir eher, wenn ich in Tränen ausbreche? Wie viel sollte ich über meine vorherigen Arztbesuche sagen? Oder sollte ich diese am besten ganz verschweigen? Soll ich ganz nüchtern bleiben oder sagen, wie sehr mich die Schmerzen auch psychisch belasten? Dieses Ringen um Glaubwürdigkeit ist eine normale Reaktion und bei chronischen Schmerzpatient*innen gut dokumentiert. Zu Recht, wie es scheint, denn Vorstellungen von Ärzt*innen, wie „wie krank Patient*innen aussehen sollten“, fließen in ihre Bewertung der Schmerzen mit ein.

Leider ist es mit der Glaubwürdigkeit schnell dahin, wenn es um sogenannte „medically unexplained symptoms“ geht, also Symptome, die nicht eindeutig und nicht unmittelbar auf eine naheliegende Ursache zurückzuführen sind. Ich konnte bei meinem Arztbesuch förmlich mitansehen, wie meine Glaubwürdigkeit mit jedem weiteren Test, der nicht nach Lehrbuch ausfiel, abnahm. Andere Ärzt*innen sagten dann so Sätze, wie: „Vielleicht sind Sie ja besonders sensibel“, um ihr Misstrauen zu verschleiern.

Auf Spurensuche

Natürlich müssen Ärzt*innen sich auf bestimmte Tests verlassen, beziehungsweise müssen sie sich wie Detektiv*innen auf Spurensuche begeben und nur wenn alle Indizien zusammenpassen, dann findet man die eine richtige Lösung. Aber es zeigt sich doch oft genug, dass der menschliche Körper nicht immer nach Schema F funktioniert und deutlich komplexer ist. Zudem sollten wir uns auch eingestehen, dass Ärzt*innen nicht immer alles wissen (können) und der Umgang mit Unsicherheit und Widersprüchen etwas ist, das gelernt sein will. Patient*innen mit einem komplexen oder ungewöhnlichen Beschwerdebild sind natürlich zeitaufwendig und die Zeit fehlt aktuell immer mehr, das können Ärzt*innen alleine nicht ändern und da ist die Versuchung vielleicht groß solche Patient*innen mal eben abzuwimmeln oder zu vertrösten.

Von Endometriose und anderen Krankheiten….

Es gibt genug Beispiele für Krankheiten, die vom Beschwerdebild her komplex sind, deren Entdeckung und Diagnose lange gedauert haben, weil da zunächst einmal scheinbar „nichts ist“. Die Endometriose zum Beispiel, dabei handelt es sich um eine chronische Krankheit, bei der Gewebe, das der Gebärmutterschleimhaut ähnelt, außerhalb der Gebärmutter wächst. Die Diagnose erfolgt mittels operativen Eingriffs (Laparoskopie), was natürlich nicht mal einfach so gemacht wird, vor allem da mittels Ultraschalls erstmal alles normal erscheint, also „nichts ist“. Es dauert bei Schmerzpatient*innen immer noch bis zu 10 Jahren bis zur Diagnose (schneller geht es bei unerfülltem Kinderwunsch), obwohl die Krankheit keinesfalls selten ist (zwischen 8-15% aller Menstruierenden sind betroffen). 

Achtung Vorurteile

Ärzt*innen verlassen sich, wie sie selbst gerne betonen auf evidenzbasiertes und vermeintlich objektives Wissen bei ihrer Diagnose: „Studien haben gezeigt, dass wenn Patient XY Symtom A hat und positiv auf Test B reagiert, er Krankheit C hat“. Dabei lassen sie aber gerne außer Acht, dass es durchaus auch genug Studien gibt, die zeigen, dass ihre eigenen Vorurteile ebenfalls eine Rolle spielen und sie eben nicht absolut objektiv agieren.

So bekommen Männer bei Schmerzen in der Regel schneller und mehr Schmerzmittel, während Frauen öfter Sedativa und Antidepressiva verschrieben bekommen, weil davon ausgegangen wird, dass ihre Schmerzen eher eine psychische statt einer körperlichen Ursache haben. Ähnliche Vorurteile gibt es im Bezug auf das Alter: Sehr junge und sehr alte Patient*innen werden weniger ernst genommen und in Bezug auf die Ethnie. Es gilt daher immer auch, sich als Ärzt*in selbst zu hinterfragen, denn es sind nicht nur die Schmerzen subjektiv, sondern auch deren Einschätzung.

Und so können wir uns die Hand reichen und uns eingestehen, dass das mit den Schmerzen für alle Beteiligte eine kniffelige Sache ist.

Die goldene Mitte

Es gibt aber auch einen Mittelweg: „partnering with patients“, also eine Partnerschaft mit Patient*innen zu bilden, gegen den Schmerz. Dabei werden Patient*innen erst einmal in den Äußerungen ihrer Symptome bestärkt und eine gemeinsame Strategie für das weitere Vorgehen erarbeitet.

Die Schmerzen sind dadurch natürlich nicht automatisch weg, aber besser auszuhalten. Denn am Ende wollen wir als Patient*innen vor allem ernst genommen werden, ein bisschen Empathie für unseren Schmerz und eine Person an unserer Seite, die uns dabei hilft, etwas gegen den Schmerz zu unternehmen. Schmerz und Krankheit isolieren einen schnell, und das Gefühl der Einsamkeit und Verzweiflung folgen auf dem Fuße.

Im besten Fall findet sich die Ursache und der Schmerz hört auf oder wird zumindest besser. Andernfalls kann wenigstens mit geeigneten Schmerzmitteln gegen ihn vorgegangen werden. Von eine*r Ärzt*in ernstgenommen zu werden kann sich wie ein Geschenk anfühlen, so auch bei mir. Prompt hatte ich nicht nur die rettende Überweisung in der Hand, sondern das erste Mal auch wieder Hoffnung, denn es folgte mein neuer Lieblingssatz: „Wenn Sie sagen, da ist was, dann ist da was!“

Finden Sie spezialisierte Experten bei Krebs
Bitte Fachbereich auswählen
Zuletzt geändert am: 13.11.2024
Autor: Redaktion StärkergegenKrebs

Dr.sc.med. Violet Handtke

Beitrag jetzt teilen

Endometriose Vereinigung Deutschland e.V. Wie wird Endometriose diagnostiziert?. https://www.endometriose-vereinigung.de/diagnose/; Letzter Abruf: 09.10.2024

Grossman, S. A., Sheidler, V. R., Swedeen, K., Mucenski, J., & Piantadosi, S (1991) Correlation of patient and caregiver ratings of cancer pain. In: Journal of pain and symptom management. 6(2), S.53-57.

Samulowitz, A., Gremyr, I., Eriksson, E., & Hensing, G. (2018) “Brave men” and “emotional women”: A theory-guided literature review on gender bias in health care and gendered norms towards patients with chronic pain. In: Pain research and management. 2018(1),

Snijders, R. A., Brom, L., Theunissen, M., & van den Beuken-van Everdingen, M. H. (2023) Update on prevalence of pain in patients with cancer 2022: a systematic literature review and meta-analysis. In: 15(3). 591,

Tait, R. C., Chibnall, J. T., & Kalauokalani, D. (2009) Provider judgments of patients in pain: seeking symptom certainty. In: Pain Medicine. 10(1), S.11-34.

Van den Beuken-van Everdingen, M. H. J., De Rijke, J. M., Kessels, A. G., Schouten, H. C., Van Kleef, M., & Patijn, J. (2007) Prevalence of pain in patients with cancer: a systematic review of the past 40 years. In: Annals of oncology. 18(9), S.1437-1449.

Wagemakers, S. H., Van Der Velden, J. M., Gerlich, A. S., Hindriks-Keegstra, A. W., van Dijk, J., & Verhoeff, J. (2019) A systematic review of devices and techniques that objectively measure patients’ pain. In: Pain Physician. 22(1), S.1.

Werner, A., Isaksen, L. W., & Malterud, K. (2004) ‘I am not the kind of woman who complains of everything’: illness stories on self and shame in women with chronic pain. In: Social science & medicine. 59(5), S.1035-1045.

Unser Angebot erfüllt die afgis-Transparenzkriterien. Das afgis-Logo steht für hochwertige Gesundheitsinformationen im Internet.

Fanden Sie diesen Artikel hilfreich?

Vielen Dank für Ihr Feedback!
Gerne können Sie uns noch mehr dazu schreiben.

Bitte füllen Sie das Nachrichtenfeld aus.

Vielen Dank für Ihre weiteren Anmerkungen!

Empfohlene Artikel:

staerkergegenkrebs.de

Ein Service für Krebspatienten und deren Angehörige