Schuld und Sühne – Über Schuldgefühle, Krankheiten und ein gesundes Leben

Über die Schuld an der Krankheit

Während eines kürzlich getätigten Kurztrips nach Rom (neidische Seufzer an dieser Stelle sind erlaubt), nahm ich an einer spannenden Tour zu den mysteriösen Todesumständen des Künstlers Caravaggio teil. Keine Angst, ich schweife nicht in kunsthistorisches Geschwafel ab, sondern borge mir lediglich einen Teil seiner Biografie.

Unserem Guide war es nämlich besonders wichtig, Ereignisse aus Caravaggios Kindheit hervorzuheben, denn wie wir spätestens seit Freud wissen, liegt hier der Hund begraben oder sollte ich eher sagen das Trauma. Er bat uns also uns folgende Szene vorzustellen: 

Der fünfjährige Caravaggio steht mit seinen Eltern auf einer großen Piazza in Mailand. Wir schreiben das Jahr 1576 und die Pest wütet in der Stadt. Es ist dunkel, denn tagsüber ist es den Menschen verboten ihre Häuser zu verlassen. Und ja, Epidemien oder Pandemien scheinen sich seitdem nicht besonders verändert zu haben. Kerzen erleuchten den Platz nur schemenhaft und damit auch die aus den Kirchen herausgetragenen Gegenstände, denn die Messe soll im Freien stattfinden. Ganz vorne, wo Erzbischof Karl Borromäus gleich eine Prozession anführen soll, sind die Leichen der Pesttoten aufgestapelt und warten darauf begraben zu werden. 

Borromäus stimmt seine Predigt an und macht die Sünden und die Frivolität der Bewohner*innen Mailands für die rasante Ausbreitung der Pest und die steigende Zahl der Toten verantwortlich und verlangt von ihnen Gebete und Buße.

An dieser Stelle können jetzt erst einmal all jene Eltern aufatmen, die ein schlechtes Gewissen haben, weil sie ihrem Fünfjährigen heute eine zusätzliche Folge Paw Patrol erlaubt haben. Aber wieso hat diese lang vergangene Szene nicht an Aktualität verloren?

So sehr wir heute milde lächelnd die Köpfe darüber schütteln mögen, wie wenig unsere Vorfahren über die Übertragung von Infektionskrankheiten wussten, so ist eines gleich geblieben: Krankheit und Schuldgefühle bleiben untrennbar miteinander verbunden. Denn sind es heute nicht auch die „Sünden“ unseres Lebenswandels die uns krank machen? Haben wir nicht oft das Gefühl selbst schuld an unserer Erkrankung zu sein? Oder wir fragen uns, was wir denn getan haben mögen, um diese Krankheit zu verdienen? Genauso urteilen wir über unsere Mitmenschen: „Klar, dass der Lungenkrebs hat, der hat ja auch geraucht,“ oder „Sie hat immer alles in sich hineingefressen, das kann ja nicht gesund sein“.  

Zusätzlich haben wir eine Health und Wellness-Kultur, die ein gesundes Leben zum absoluten Nonplusultra erhebt. Ihre Anhänger*innen definieren „richtige“ und „falsche“ Lebensstile mit Verboten und festen Regeln. Wer sich an diese hält, der/die ist vor Krankheit scheinbar gefeit und kann zusätzlich noch die eigene moralische Überlegenheit genießen.

Tatsächlich gibt es zahlreiche Risikofaktoren und Auslöser von Krankheiten, die wir vermeintlich selbst in der Hand haben, aber wie groß ist unsere Eigenverantwortung wirklich? Und was tun mit den Schuldgefühlen?

Was sind Schuldgefühle und wo kommen sie her?

Das Gefühl der Schuld wird negativ erlebt und tritt dann auf, wenn wir denken, etwas falsch gemacht zu haben. Genauer, wenn wir das Gefühl haben, dass wir die Schuld oder Verantwortung an einem Schaden tragen, der entstanden ist, weil wir gegen moralische oder soziale Normen verstoßen haben. Kurz: Wir haben ein schlechtes Gewissen, weil wir wissen, dass wir Mist gebaut haben.

Bemühen wir wissenschaftliche Studien zu Häufigkeiten von Schuldgefühlen bei Krankheit, stellen wir zum Beispiel fest, dass Raucher*innen meist mehr Schuldgefühle haben, wenn sie an Krebs erkranken, als andere Betroffene von Krebserkrankungen. Der Glauben, verantwortlich für die eigene Erkrankung zu sein, führt vermehrt zu Gefühlen von Angst und Depression, hat also durchaus negative Auswirkungen auf die Lebensqualität. Eine tschechische Studie geht so weit über eine wechselseitige Beeinflussung von chronischen Erkrankungen (wie Krebs) und Schuldgefühlen zu mutmaßen.

Schuldgefühle bei Krankheit stammen aus dem Eingeständnis heraus, dass der eigene Lebensstil und das Handeln gegen ärztlichen Rat und allgemeine Gesundheitsprinzipien zum Auftreten der Krankheit beigetragen haben. Dass es also einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen dem eigenen Verhalten und der Krankheitsentstehung gibt. Es geht darum Verantwortung für die eigene Gesundheit zu empfinden.

Nun stellt sich heraus, dass selbst Schuldgefühle eine gute Seite haben: Sie können nämlich den Impuls auslösen das eigene Verhalten zum Besseren verändern zu wollen. Habe ich den Zusammenhang zwischen Lebensstil und Krankheit verstanden, stellt sich nur noch die Frage:

Was muss ich tun, um gesund zu leben?

Um ein gesundes Leben zu führen, muss ich erstmal wissen, was ein solches ausmacht. Das erfordert zum einen, dass ich mir dieses Wissen irgendwie selbst aneigne, oder bestenfalls wird mir beigebracht, dass Ernährung, Schlaf, Bewegung und Entspannung wichtig für meinen Körper sind. Zum anderen muss ich all diese Informationen verstehen und bewerten können und sie dann auch noch umzusetzen. All das lässt sich mit dem Begriff Health-Literacy, zu Deutsch Gesundheitskompetenz, zusammenfassen. Diese hat sich in Deutschland laut Bundesgesundheitsministerium während Corona sogar verschlechtert aufgrund der schieren Menge an (Falsch)informationen und widersprüchlichen Aussagen. Es ist also keineswegs einfach gesundheitskompetent zu sein.

Erschwerend kommt noch hinzu, dass das Wissen nicht statisch ist, sondern es verändert sich mit dem aktuellen Stand der Forschung. Deshalb kommen auch immer wieder neue Hypes und Superfoods auf. Als ob Kurkuma, Goji-Beeren oder Chia-Samen die Macht hätten uns vor einem Leben in Krankheit oder einem frühzeitigen Tod zu retten.

Bei einem für Recherchezwecke getätigten online-Test zu meinem eigenen Lebensstil kam heraus, dass ich eine „Inkonsequente“ bin, das heißt: ich weiß, wie gesundes Leben geht, ziehe es aber nicht konsequent durch. Prompt hatte ich ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle. Nachdem ich diese aber hinter mir gelassen und mir einen Schokoriegel geschnappt hatte, habe ich mich gefragt:

Wie leicht ist es eigentlich gesund zu Leben?

Das ist die Frage danach, ob die von unserer Gesellschaft vorgegebenen Lebensumstände auch ein gesundes Leben fördern. Denn wie frei sind wir wirklich bei der Wahl unseres Lebensstils? Passen wir uns nicht eher an bestehende Gegebenheiten unserer Umwelt an?

Damit meine ich, dass sich sicherlich die wenigsten bewusst gegen ein „gesundes“ Leben entscheiden und für eines, wo sie 8 Stunden am Tag mit unzähligen Tassen Kaffee auf einem unbequemen Bürostuhl gebückt vor einem Bildschirm sitzen, einer zermürbenden Tätigkeit nachgehen, in der Kantine mittags Buletten und in Meetings Kekse essen, mit Öffis oder Auto noch eine Stunde pendeln, um in der städtischen versmogten Betonwüste, in der sie wohnen, noch den Abend erschöpft mit einem Bierchen und einer Fertigpizza vor dem Fernseher ausklingen lassen, während durch das offene Fenster der Verkehrslärm dringt.

Natürlich geht es auch anders, aber meist nur mit Mehraufwand: mehr Wissen, mehr Geld, mehr Zeit. Nicht umsonst zeigen Studien, dass Menschen mit höherem sozioökonomischem Status gesünder sind als die mit einem schlechteren. Hallo soziale Ungleichheit! Ausgelegt auf ein gesundes Leben ist die von uns geschaffene Umwelt nämlich nicht. Das bedeutet, ich muss eine bewusste Anstrengung unternehmen, um das Richtige - das „Gesunde“ - zu tun.

Um also die Frage zu beantworten: Nein, es wird einem nicht leicht gemacht gesund zu leben, weil von der Lebensmittelindustrie, über Lebens- und Arbeitsräume sowie Tagesstrukturen bis hin zu Freizeitangeboten nichts darauf ausgelegt ist. Denn wenn ich mich mehr bewegen und früher ins Bett gehen soll, um fit und erholt zu sein, wieso werden die Netflix-Serien dann immer besser?

Die Schuldfrage

Das wirft Fragen danach auf, wo die Verantwortung für den eigenen Lebensstil aufhört und wo die gesellschaftliche Verantwortung beginnt. Beides ist wichtig, aber warum liegt der Fokus oft so stark auf der Eigenverantwortung der Menschen für ihre Gesundheit? Wieso wird die Medizin zum Karl Boromäus, der individuelle Verfehlungen anprangert, während die wahre Schuld ganz woanders liegt?

Die Bedrohung durch Krankheit ist heute genauso real, wie damals bei der Pest und unsere Leichenstapel ähnlich hoch: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Erkrankungen des Atmungssystems sind die häufigsten Todesursachen. Viele - zu viele - ausgelöst durch einen ungesunden Lebensstil. Allein 40% der Krebserkrankungen könnten durch einen gesunden Lebensstil verhindert werden.

Dennoch kümmert sich keine*r um die Ratten mit den Flöhen, sondern allein um unsere Sünden und Frivolität. Wir ändern nichts am tatsächlichen Auslöser unserer Volkskrankheiten, nämlich Lebensumstände, die ein gesundes Leben erschweren oder sogar verhindern. Stattdessen machen wir Individuen alleinverantwortlich für ihre Gesundheit und machen sie damit zu den Schuldigen. Aber wenn wir uns darüber beschweren, dass Menschen in einer ungesunden Umgebung, ungesund Leben, dann ist das scheinheilig. Denn als Gesellschaft nehmen wir Gesundheitsrisiken wissentlich in Kauf. 

Wir ordnen die Gesundheit der Bevölkerung anderen Interessen unter, um dann Individuen ein schlechtes Gewissen zu machen, weil sie es der Gesellschaft gleichtun. Das passt nicht zusammen.

Zu seiner Verteidigung: Karl Boromäus hat die Pestkranken unter Einsatz seiner eigenen Gesundheit begleitet und verblieb als einziger Machtinhaber in der Stadt, während sich alle anderen aus Angst um ihr eigenes Leben aufs Land trollten. So macht es die Medizin heute zum Glück auch: Sie hilft den Kranken. Sie ist darin sogar so gut, dass unsere Lebenserwartung noch nie so hoch war, wie jetzt. Das sollte man nicht vergessen.

Im Unterschied zu Boromäus jedoch, der sich die Krankheit nur als gerechte Strafe eines übernatürlichen Wesens erklären konnte, wären wir heute nicht mehr auf Gebete und Buße angewiesen. Wir kennen den wahren Grund und könnten es - mit mehr Prävention und gesünderen Lebensräumen - eigentlich besser. Wir könnten es Menschen leicht(er) machen gesund zu leben und als Gesellschaft einen Teil der Verantwortung schultern, um Krankheiten vorzubeugen. Aber ich will hier niemandem ein schlechtes Gewissen machen, ich habe gehört, das macht krank.

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Zuletzt geändert am: 23.10.2024
Autor: Redaktion StärkergegenKrebs

Dr.sc.med. Violet Handtke

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