Borromäus stimmt seine Predigt an und macht die Sünden und die Frivolität der Bewohner*innen Mailands für die rasante Ausbreitung der Pest und die steigende Zahl der Toten verantwortlich und verlangt von ihnen Gebete und Buße.
An dieser Stelle können jetzt erst einmal all jene Eltern aufatmen, die ein schlechtes Gewissen haben, weil sie ihrem Fünfjährigen heute eine zusätzliche Folge Paw Patrol erlaubt haben. Aber wieso hat diese lang vergangene Szene nicht an Aktualität verloren?
So sehr wir heute milde lächelnd die Köpfe darüber schütteln mögen, wie wenig unsere Vorfahren über die Übertragung von Infektionskrankheiten wussten, so ist eines gleich geblieben: Krankheit und Schuldgefühle bleiben untrennbar miteinander verbunden. Denn sind es heute nicht auch die „Sünden“ unseres Lebenswandels die uns krank machen? Haben wir nicht oft das Gefühl selbst schuld an unserer Erkrankung zu sein? Oder wir fragen uns, was wir denn getan haben mögen, um diese Krankheit zu verdienen? Genauso urteilen wir über unsere Mitmenschen: „Klar, dass der Lungenkrebs hat, der hat ja auch geraucht,“ oder „Sie hat immer alles in sich hineingefressen, das kann ja nicht gesund sein“.
Zusätzlich haben wir eine Health und Wellness-Kultur, die ein gesundes Leben zum absoluten Nonplusultra erhebt. Ihre Anhänger*innen definieren „richtige“ und „falsche“ Lebensstile mit Verboten und festen Regeln. Wer sich an diese hält, der/die ist vor Krankheit scheinbar gefeit und kann zusätzlich noch die eigene moralische Überlegenheit genießen.
Tatsächlich gibt es zahlreiche Risikofaktoren und Auslöser von Krankheiten, die wir vermeintlich selbst in der Hand haben, aber wie groß ist unsere Eigenverantwortung wirklich? Und was tun mit den Schuldgefühlen?