Tumorboards: Patient*innen willkommen?!

Was ist ein Tumorboard?

Tumorboards oder Tumorkonferenzen sind wie ein Treffen der who´s who der Onkologie: Vertreter*innen verschiedener Fachrichtungen (zum Beispiel: Onkolog*innen, Chirurg*innen, Strahlentherapeut*innen und viele weitere) treffen sich zu einer Konferenz, wo Fälle von Patient*innen mit Krebserkrankungen vorgestellt werden. Dann wird besprochen, was aus Sicht der Expert*innen die beste Behandlung ist, die den Patient*innen angeboten werden kann.

Für wen das jetzt ein bisschen zu abstrakt klingt, dem kann ich das gerne anhand meiner eigenen Erfahrung illustrieren. Ich durfte nämlich als Wissenschaftlerin mal in einem Tumorboard Mäuschen spielen und sagen wir es mal so: Es war sehr erhellend.

Wie läuft ein Tumorboard ab?

Während einer Hospitation in der Onkologie, bei der mir ein Arzt die Station zeigte, durfte ich auch zu einem Tumorboard. Dies ist also nur ein Beispiel für ein Tumorboard und ich erhebe sicher keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, da es große Unterschiede bezüglich des Ablaufs und der Zusammensetzung von Tumorboards gibt.

Zu dem Zeitpunkt stellte ich mir ein Tumorboard naiverweise immer so vor: Lauter Ärzt*innen aus verschiedenen Fachrichtungen sitzen an einem runden Tisch mit Kaffee und Keksen, Patient*innenfälle werden vorgestellt und alle zusammen überlegen ganz scharf, wie man ihnen am besten helfen kann. Kommen dann zu einer genialen Lösung, à la Dr. House, die dann postwendend den dankbaren Patient*innen vorgeschlagen wird.

Das mag auch ganz grob die Idee sein, aber der Ablauf war doch etwas anders. Der Arzt, der mich auf Station herumgeführt hatte, öffnete die Tür zu einem abgedunkelten Raum, hielt sie auf und winkte mich hektisch hinein. Das Tumorboard war schon im vollen Gange. Es war ein langgezogener Raum, wo vorne eine große Leinwand und ein Pult waren.

Der Saal war ziemlich voll, bestimmt an die 20-30 Leute, wobei ich im Schätzen echt schlecht bin. Auf jeden Fall wies er mich an, gleich hinten im Raum Platz zu nehmen, während er weiter nach vorne eilte. Ich wunderte mich ein bisschen, aber jede*r weiß, dass hinten eh immer die cooleren Leute sitzen, also machte ich mir nichts draus.

Als ich es mir mit meinem Notizblock auf meinem Konferenzstuhl gemütlich gemacht hatte, sah ich mich um und stellte fest, dass ich hier keinesfalls zufällig saß, sondern damit nur eine bestehende Ordnung erfüllte. Denn ich kannte genug der anwesenden Ärzt*innen, um zu wissen, dass die in den ersten Reihen alle Chefärzt*innen waren, dahinter saßen die Oberärzt*innen, dann die Fach*ärztinnen und schließlich um mich herum die Assistenzärzt*innen, PJler*innen, Famulant*innen etc, etc, mit anderen Worten saßen wir gemäß der Rangfolge der Mediziner*innen. Zum Glück gab es nicht noch weiter hinten ein Exil für nicht-Mediziner*inner, wo ich hin verbannt wurde.  

In der Mitte führte ein Gang nach vorne zum Pult und rechts und links waren Stuhlreihen aufgestellt. Es wurde immer ein Patient*innenname aufgerufen und irgendwo um mich herum raschelte kurz darauf Papier und ein*e nervöse*r Assistenzärzt*in stand auf, sprintete nach vorne zum Pult und stellte den/die Patient*in vor. Damit meine ich Eckdaten einer Person, die sicher in keinem unserer online-Profile so je auftauchen würden: „Frau Mayer°, 54 Jahre, weiblich, Erstvorstellung am soundsovieltem mit XY Karzinom, Tumorstadium T2N1M1 usw…“ Es folgte eine lange Liste an medizinischem Kauderwelsch zu Stadium, Grad, Tumormarkern, Lage, Schuhgröße und Lieblingsfarbe des Tumors, keine Ahnung. Im Hintergrund sah man dann auf der Power Point Präsentation eine Abfolge von CT-Bildern, die für mich aussahen wie eine Reihe Rorschach-Tests.

Während der Präsentation sah ich bereits einige der Ärzt*innen in den ersten Reihen tuscheln und mit dem Finger auf die Folien zeigen. Danach drehte sich der Moderator, das war der Arzt, der mich reingeführt hatte, zum Publikum und sah sich um. Und jetzt ging es für mich ein bisschen zu, wie auf einer Auktion: Rechts saßen, wie sich herausstellte die Chirurg*innen und einer (ich vermute der oberchefige Chefarzt) rief rein, was sie machen könnten. Bei anderen Fällen hob er nur abwehrend die Hände und meinte: „Da können wir nichts machen“.

Nacheinander meldeten sich die Chefärzt*innen mit ihren Vorschlägen zu Wort, oder versuchten sie an andere Fachrichtungen abzutreten: „Könntet ihr nicht..?“. Nachdem alle Chefärzt*innen ihre Vorschläge - oder getreu der Auktionsmetapher: ihr Gebote - abgegeben hatten, gab es nur Diskussionen, wenn mehrere Möglichkeiten bestanden. In diesen Fällen einigten sie sich untereinander meist auf etwas und: „Verkauft an die Radiologie für 36 Bestrahlungssitzungen á 20 Minuten“. Nächste*r. So ging das gefühlte Stunden und ich driftete im Halbdunkel des Raumes langsam weg.

Welche Rolle spielen Patient*innen in Tumorboards?

Nur ein Fall riss mich aus meinem kleinen Schläfchen, denn es spielten andere Faktoren als die vorgestellten Bilder und Werte eine Rolle, nämlich musste der Assistenzarzt, der den Fall vorstellte, vorwegschicken, dass dieser junge Patient eine Behinderung hatte und von seiner Mutter gepflegt wurde, damit einher gingen gewisse Einschränkungen. Ansonsten spielten die Lebensumstände der Patient*innen absolut keine Rolle.

Aber ist das wirklich so nebensächlich, wenn es um die „richtige“ Therapie für Patient*innen geht? Vielleicht kann man im Fall von Herrn X nichts mehr machen, um ihn zu heilen, aber er will noch die Geburt seines ersten Enkels erleben und braucht dafür eine Therapie, die ihm ein paar Monate erkauft. Vielleicht würde Frau Y lieber operiert werden, obwohl die Erfolgsaussichten bei einer Bestrahlung etwas besser wären, weil sie wegen ihres pflegebedürftigen Mannes nicht so lange von zuhause wegbleiben kann. Vielleicht will Frau Z keine 3. Chemotherapie, weil sie genug davon hat und sich eher für eine palliative Behandlung entscheiden würde, wenn jemand ihr dies vorschlagen würde.

Die Stimme der Patient*innen blieb aber stumm. Das legt den Schluss nahe, dass man vielleicht die Patient*innen selbst ins Tumorboard holen sollte, wie es viele Patientenvertreter*innen fordern. Sicher gehört ihre Sicht zur Entscheidungsfindung über die beste Therapie, wie ein elterlicher Nervenzusammenbruch zum Familienurlaub, aber wie diese in ein solches Tumorboard eingebracht wird, das ist die wahre Krux an der Sache.

Sollten Patient*innen an Tumorboards teilnehmen?

Es gibt einige Empfehlungen Patient*innen zu erlauben an ihrem eigenen Tumorboard teilzunehmen. Dadurch gab es auch erste Versuche der Umsetzung (zum Beispiel die PINTU-Studie). Die Mehrzahl der Patient*innen aus der Studie fand es hilfreich, aber es gab auch welche, die es negativ erlebt haben. Viel hat damit zu tun, dass es keine einheitlichen Regelungen dazu gibt, wie Tumorboards ablaufen, zum Beispiel spielt eben die Sitzordnung eine Rolle bei der Entscheidungsfindung (damit wären wir doch wieder bei meinem runden Tisch), aber auch damit, wie Patient*innen involviert werden, wenn sie teilnehmen.

Ich sehe durchaus auch Vorteile darin, dass Tumorboards zu großen Teilen in Abwesenheit von Patient*innen stattfinden. Es ist ein geschützter Raum, wo es um geballtes Fachwissen geht und es vielleicht eine gewisse Abstraktion von Patient*innen geben muss. Mediziner*innen unter sich unterhalten sich in einer ganz eigenen Sprache, wie wahrscheinlich alle wissen, die schon einmal unfreiwillig einem solchen Gespräch bewohnen mussten. Das ist aber nötig: Hier muss niemand abgeholt werden, alle starten mit demselben Wissensstand ins Gespräch und diskutieren die medizinisch relevanten Parameter. 

Sind Patient*innen anwesend ist dies auf einmal nicht mehr möglich, wenn ihre Teilnahme tatsächlich einen Mehrwert bringen soll, denn dann müssen Fachbegriffe erklärt, Behandlungen beschrieben und anhand der Parameter verdeutlicht werden, warum etwas möglich ist oder eben nicht. Das braucht Zeit und es ist fraglich, wie viel Wissen Patient*innen in der kurzen Zeit aufholen können, um sinnvoll am Tumorboard teilnehmen zu können. Außerdem sind Ärzt*innen sicherlich gehemmter oder vorsichtiger bei ihren Vorschlägen. Aber Brainstormen ist nur als freier Prozess möglich, wo man alle Ideen äußern und ausloten kann, auch die schlechten, aber das möchte man Patient*innen sicherlich nicht zumuten.

Wenn ich an das von mir erlebte Tumorboard zurückdenke, hätte ich mich als Patientin wohl kaum getraut etwas zu sagen, zumal ich auch nur einen Bruchteil von dem verstanden habe, was besprochen wurde. Mir wäre also nur die Option: „Verständnis vortäuschen und enthusiastisch nickend zustimmen“ geblieben. Eine solche Überforderung von Patient*innen ist sicherlich nicht sinnvoll. Andererseits habe ich schon Patient*innen erlebt, die so gut über ihre eigene Erkrankung Bescheid wussten und so versiert in der Sprache der Mediziner*innen waren, dass sie von mir direkt einen Ehrendoktortitel verliehen bekommen und sicher auch in einem Tumorboard brilliert hätten. Aber das ist eben nicht verallgemeinerbar.

Kann die Patient*innenstimme anders eingebracht werden?

Patient*innen könnten aber auch auf andere Weise repräsentiert oder zumindest berücksichtigt werden. Es ist denkbar, dass jemand aus dem Behandlungsteam die Patient*innenstimme vertritt. Die Pflege ist zumeist näher an Patient*innen dran und könnte sich (mit dem richtigen Standing) in solchen Konferenzen für sie stark machen. Es könnte auch eine neue Rolle, zum Beispiel Patientenvertreter*innen geben oder jemand, der Patient*innen begleitet, eine Art „Buddy“- oder Tandem-System, so dass Patient*innen jemand erfahrenes an ihrer Seite haben, der/die sie unterstützt.

Bei der Vorstellung der Patient*innen wäre es aber auch möglich wichtige Details und Wünsche von Patient*innen zu erwähnen und nicht nur medizinische Eckdaten herunter zu rattern. Ein Intensivmediziner hat mir mal davon berichtet, dass sie in der Patient*innenakte immer ein Blatt hinterlegt haben, wo sie persönliche Dinge zum Leben der Patient*innen notieren, Kleinigkeiten, wie „hat einen Hund, mit dem er immer spazieren geht“ oder „tanzt Salsa“ und dass diese Dinge bei Entscheidungen zur weiteren Behandlung auch berücksichtigt werden. Einfach auch um alle daran zu erinnern, dass es um einen Menschen geht und dass Entscheidungen über eine Behandlung nicht alle im gleichen Maße treffen.

Denn es ist immer ein schmaler Grat vom Menschen zu abstrahieren, um schwere medizinische Entscheidungen treffen zu können und dabei nicht selbst kaputt zu gehen und zu vergessen, dass es um einen vollwertigen Menschen geht und nicht einen Körper, der repariert werden muss, weil er defekt ist.

Eine weitere Möglichkeit wäre es, die Fachrunden in Tumorboards um Expertisen zu erweitern, die in ihrer Grundausrichtung Patient*innen als Ganzes ins Zentrum rücken. Zum Beispiel die Pflege oder auch die Palliativmedizin. Würde man diesen Disziplinen einen Platz in diesen Tumorboards einräumen, wäre eine ganzheitliche Sicht auf Patient*innen vielleicht eher gegeben. Oder aber man bindet nicht-medizinische Disziplinen ein. Ähnlich passiert es bereits in ethischen Fallbesprechungen, wo die interdisziplinäre Gruppe oft neben Ärzt*innen auch die Seelsorge, die Medizinethik oder weitere Disziplinen vertreten sind. Dabei gilt es sicher eine Balance zu finden, da dies personell weitere Kapazitäten binden würde.

Fazit

Ich will hier nicht anzweifeln, dass in dem von mir erlebten Tumorboard lauter extrem kompetente Leute Lösungen für Patient*innen besprochen haben, die dem absoluten Goldstandard in der Medizin entsprachen. Ganz ehrlich, bei dem ganzen Wissen in dem kleinen Raum, kam ich mir vor, als ob ich das intellektuelle Niveau einer Ratte hätte, die es in einem akzeptablen Zeitraum durch ein Labyrinth zu ihrem Food Pellet schafft. Und das sollte Patient*innen begreiflich und anschaulich gemacht werden: Wie viel Expertise und Wissen in ihre Behandlung fließen. Das ist doch das, was den meisten von uns wichtig ist: Wir wollen das Gefühl haben, dass die Ärzt*innen, die unser Leben in der Hand haben, für uns das Beste tun. Andererseits führt die komplette Abwesenheit von Patient*innen oder der Patient*innenstimme eventuell schnell dazu, dass Ärzt*innen vergessen, dass Patient*innen die Expertise für ihr eigenes Leben und ihren eigenen Körper haben und diese genauso schwer wiegen sollte, wie ihr Fachwissen und ihre medizinische Erfahrung.

Letztlich geht es bei Tumorboards - wie so oft in der Medizin - darum eine Brücke zu schlagen, zwischen Patient*innen und Ärzt*innen. Ob dafür eine Teilnahme an der Konferenz selbst nötig ist, oder ein anderes Modell mehr Sinn macht, wird sich hoffentlich noch zeigen. Oft genug, wird es ohnehin so sein, dass Patient*innen tun, was ihnen von ihren Behandelnden empfohlen wird, weil sie eben wissen, dass es das Beste ist, was medizinisch möglich ist. Wir sollten dies aber nicht als gegeben hinnehmen und offen dafür sein, dass das medizinisch Beste nicht deckungsgleich mit dem Besten für den/die Patient*in ist.

 

°Hierbei handelt es sich selbstverständlich um eine fiktive Patientin

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Zuletzt geändert am: 09.10.2024
Autor: Redaktion StärkergegenKrebs

Dr.sc.med. Violet Handtke

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Ansmann, L., Heuser, C., Diekmann, A., Schellenberger, B. et al (2021) Patient participation in multidisciplinary tumor conferences: How is it implemented? What is the patients’ role? What are patients’ experiences?. In: Cancer medicine. 10(19), S.6714-6724.

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Lamb, B. W., Brown, K. F., Nagpal, K., Vincent, C., Green, J. S., & Sevdalis, N. (2011) Quality of care management decisions by multidisciplinary cancer teams: a systematic review. In: Annals of surgical oncology. 18, S.2116-2125.

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